← Ulrike Juza
Die Erde ist auf den Satz gefallen
ISBN 978-3-9502905-0-9

Deutsch/English

Download Leseprobe

Bestellungen: Buchhandlung Schubert,
info@buchhandlung-schubert.at

Bestellung bitte per E-Mail.
Versand erfolgt per Post mit Erlagschein.
€ 15,50 zuzüglich Porto
innerhalb Österreichs: € 3,80
€ 15,50 zuzüglich Versandkostenanteil
innerhalb D/EU: € 8



contact@ulrikejuza.com

example2

das ist das journal einer zufallsreise um die welt. die ist auf mich zugekommen, wie ich bei der tür hinausgegangen und immer dem herzschlag um die nächste ecke gefolgt bin. ohne plan, reiseführer und landkarte. aber mit vertrauen und verkehrsmitteln, die gerade auf dem weg waren. beim mitschreiben ist salz und sand und so auf den satz gefallen. er ist mein geschenk zurück an die erde und ihre menschen.



Umschlaggestaltung: Betti Sauter, Wien
Satz und Innengestaltung: Ana Inés Tau, Córdoba (AR)
Druck und Bindung: Rema Print, Wien
Website: Harald Niessner, Berlin


© Ulrike Juza 2011.
Alle Rechte vorbehalten.
ich glaube, leben ist wie einen satz schreiben. man geht, und die ganze zeit schreibt man ihn weiter, sucht sich jeden moment die schönste von den wahrscheinlichen möglichkeiten aus und erzählt dabei eine geschichte.

2001 war ein punkt, an dem fühlte sich meine an wie vorgeschrieben. da musste ich das blatt wenden und hinaussteuern auf eine leere seite. schauen, was passiert. wie die welt aussieht, wenn man blank und mit einem offenen herz auf sie zugeht. das hier ist die geschichte.


13|10

der kleine alte koffer. ein frachtschiffticket nach Montreal, nachtzug nach Hamburg. hinaus aus Ober-Grafendorf.

14|10

Hamburg. der hafen ist weit draußen in der Elbemündung. in der kantine frühstücken arbeiter. sie nehmen mich mit zum frachthafen. das schiff heißt Fortune, die crew ist indisch. oben, am ende der schiffsrampe fragt ein bayer: Sie sind ein passagier? er ist der zweite. er ist in frachtern fast schon um die ganze welt gefahren.

der hafenkran zieht die container hoch, schwingt sie auf das schiff, vor dem kabinenfenster baut sich ein horizont aus kisten auf. die ventilatoren in den wänden der kühlbehälter kreisen wie verlorene insekten.

at night seagulls sit there, sagt der Steward, er macht das bett. die Fortune tutet. sie läuft aus.

15|10

unter freiem himmel spürt man das schwanken nicht. fußspuren sind an deck, öl und wasser. passagiere dürfen nur auf grünen boden, nicht auf den roten.

die möwen. spielen mit dem wind? sieht aus wie blanke lust. aus der tiefe sprudelt wasser hoch, klar, türkis, wind verbläst wellenkämme und löst sie auf, die spitzen tröpfeln seitwärts ab, glitzern. regenbogenfarben.

[Nordsee]

Nordsee, irgendwo vor Schottland. der Dritte Offizier kommt in die kabine, gibt sicherheitsinstruktionen, zurrt den helmgurt um meine wange, die noch geschwollen ist von der kieferoperation vor zwei tagen. im Atlantik wird es wilder, sagt er. sie verlängern jeden tag um eine stunde, die uhr wird nachts zurückgestellt.

vor dem fenster ächzen die container. behäbiges knarzen, schnarren, der rumpf schaukelt in kreisen. der körper wird gegen die wand gedrückt und rollt wieder zurück und aus dem schlaf.

schleiche hinaus an deck. die nacht drückt sich an die reling, oben der hellste sternenhimmel. der mund steht offen, alles fühlt sich an wie kindsein. einatmen, ein, zwei sterne. oranges schiff auf schwarzem meer.

kalt im pyjama. die eisentür aufstemmen. der wind pfeift durch den gang, verscheucht den warmen duft von räucherstäbchen vor einer kabinentür mit aufschrift Able Seaman.

16|10

das kielwasser zieht eine helle silberne spur, eine möwe fliegt durch die morgensonne. eine verwaschen grüne küste ist der norden Schottlands. auf der brücke auf dem hochsitz sitzen, ins fernglas schauen, über die fracht hinaus.

vor Kanada sieht man wale, belugas auch. der Kapitän wackelt heran wie ein pinguin in schwarzen lederpantoffeln. Fortune ist ein gutes schiff, sagt er. er ist holländer. er spricht dreizehn sprachen. was in den containern ist, will er gar nicht wissen. westlich von England sind immer stürme, deshalb fahren wir östlich hoch.

am passagiertisch neben dem kapitänstisch sitzen nur wir zwei. der Bayer sieht auf die fensterputzenden wasserdüsen und zwei meter langen scheibenwischer, sagt: bei meiner mutter schaut das anders aus. und: von Havanna nach Tahiti durch den Panamakanal, das war das schönste, was ich je gemacht habe. ich wüsste schon, was ich an Ihrer stelle täte. nach Chicago, auf dem motorrad die Route 66, San Francisco, die Panamericana, und dann hat man die inseln vor sich, Hawaii, Australien. Sie werden wieder symmetrisch.

die fäden sollten aus der backe. der Steuermann wird sie entfernen, sagt der Kapitän. with the fireman’s torch, sagt der kleine Steuermann im hospital room. tief unten im schwankenden boot steht er breit wie am steuerrad, neben dem Dritten Offizier in weißem overall mit schutzhelm. ziehe meinen mundwinkel zurück, der eine hält die taschenlampe, der andere schnipselt mit der nagelschere im hinterkiefer und sagt: rough sea. we are not professionals.

man geht im seegang bergab mit einer welle, kann nicht bremsen, läuft zu weit. zurück. hinauf die steile treppe geht es sich von selbst, der körper wird zu ihr gebogen und hochgedrückt. bis zum ende der welle. einen moment im bodenlosen stehen.

oben auf der brücke nach hinten sehen in die dämmerung. es regnet stark, die tropfen platschen an deck, wenn das schiff schwankt, wandern die lacken mit. wir bewegen uns auf einer fläche wasser zwischen sonnenauf- und untergang.

17|10

das schiff scheint zu stehen. nur der vorhang zischt in der schiene hin und her. es ist halb fünf, oder halb vier. die zeit ist anders, die wellen sind anders. das kreisen ist jetzt ein horizontales. die masse im körper schwappt zirkulär.

draußen der wind fährt durch die knochen bis ins herz. die möwen folgen immer noch dem schiff, gleiten manchmal weg, wie abgezogen von den wellen, lassen sich von ihnen tragen. folgen haarscharf ihrer biegung bis ins wellental, schießen hoch über den kamm, lassen sich zur nächsten fallen, drehen ab, hinaus, und fort. und irgendwann sind sie zurück am heck. die folgen ihrer natur. sie sind einfach.

der Steuermann steht vor dem steuerrad im maschinenraum, sieht ihm zu, wie es austariert, ständig in bewegung. fällt das GPS aus, steuert er. er zeigt mir das schiff. er ist der Zweite Offizier. der Dritte trägt die verantwortung für die sicherheit, der Kapitän für alles.

lange eisentreppen verbinden ebenen im schiffsbauch. motoren stampfen, alles blitzblank. tausendsiebenhundert container sind an bord, auf sieben etagen, hundertsechzehn metern länge. it’s a small ship, sagt der Chefingenieur.

you must go to the bow! it’s the best place on the boat. der Steuermann hängt mir begeistert einen parka um, mit fell und kapuze, trotte hinter ihm wie ein bär, unter rohren für diesel und dampf, die ziehen sich wie gedärme durch, wir folgen ihnen zur wasserdichten schweren tür, kriechen nach oben. an deck stehen fünf matrosen mit grünen wollhauben unter gelben helmen und pinseln rotorange farbe. alle drei jahre wird das schiff unten gestrichen.

kampf mit dem wind um einen stehplatz. ganz vorn am bug die kleine stiege. man schaut von oben hinein, direkt ins meer, ertrinkt in blau. da ist ein blau, ein wortloses blau. weil es kein vergleichen gibt. blaues licht. die Fortune gleitet ruhig darauf. unten zerschneidet es der kiel, an den seiten ist alles weiße gischt und schaum, und die möwen ziehen darüber. sie kehren wieder um, sagt der Steuermann. aber das land ist schon weit.

rote wangen, rote nase. bootsfarbe am ohr, deutet mir der Steward mit dem melancholischen gesicht. er serviert das abendessen. die offiziere kommen einzeln, essen hastig, die matrosen hinten in der kantine. der Bayer hat die nachrichten vom fernschreiber gelesen. palästinenser haben einen minister erschossen, krieg in Israel, krieg in Afghanistan. neben ihm in der luke schwimmt das lila meer.

die aufschriften der container vor dem fenster kennt man schon auswendig. in das knarren mischt sich ein schaben und schleifen. verzögerungen in den bewegungen. der rhythmus staucht sich.

im traum eine blinde: manchmal ist es schwer, angst zuhaben, wenn man nicht sieht, was man tut. man greift einfach, tapst in fehler, macht weiter. durchfahre welten und reise mit dem herz. sagt sie. nur noch drei stunden bis Amerika. die uhr nach vorn.

18|10

der horizont in nebeln. wolken hängen tief wie mauern. da sieht man die wetterzonen, sagt der Kapitän. auf der anderen seite die sonne. ein rosa meersaum mit weißen kronen. die möwen. was treibt die immer weiter? die kreuzen das kielwasser, machen keinen flügelschlag. manövrieren nur ab und zu. nutzen wind und wellen.

look, sagt der Dritte Offizier, a rainbow. er ist aus Bombay. die nachrichten kommen durch. milzbrand in Washington, D.C., maul- und klauenseuche in Japan, eine möwe mitten in der sonne, groß. ganz nah.

das meer verspritzt tiefes schwarzblau. die farbe krakentinte. darin massen wasserluftgemisch, smaragd und weiß, marmor, der sich fließend ändert. luftblasen. manchmal drückt sich eine große hoch, gurgelt.

der schwarze vorhang schluckt die lichter der monitore. der Erste Offizier steht dahinter in holzfällerhemd und sandalen, macht nachtdienst. wir sind im schönwetterstück, sagt er. but never say it’s nice weather. the sea is listening and immediately you are in hell. er hat die frachtberechnung über, hat in den häfen keine zeit, an land zu gehen.

die fracht verteilt der computer. auf dem bildschirm ist ein foto seiner frau mit seinem sohn mit puppe Monica (Lewinsky). sobald er ein jahr alt ist, wird er geimpft, und sie kommen mit auf see. er hat ein mädchen in London. (Susanne aus Dachau.) but don’t tell my wife. der luftzug zieht mich aus der brückentür. good night.

19|10

ein nebel, dass man die eigenen container vor dem fenster nicht sieht. auf der brücke stehen der Dritte Offizier, der Bayer und der bodenwischer. der nebel kommt vom kalten wasserstrom aus Grönland, der auf die noch warme luft trifft. es könnten auch eisberge mitkommen, aber die chance einen zu treffen, ist gering. der Kapitän ist experte für winternavigation.

oktober ist schon kalt, wilde see, die passage nördlich von Neufundland am einfrieren. im winter fahren sie im eis bei minus fünfunddreißig grad celsius. da verlassen die indischen kapitäne die schiffe, gehen heim nach Indien. ist ihnen zu kalt, zu viel eis. er lacht. es ist die letzte fahrt mit passagieren für dieses jahr.

der letzte tag auf hoher see. bis Quebec fahren wir noch achtzehn knoten, dann weniger, wegen des tiefgangs im strom. nur eine schmale rinne ist schiffbar. die großen schiffe müssen weiter unten anlegen, kleinere verteilen die fracht. für die flussnavigation kommen die lotsen. die! die sind immer die könige! er zieht karten aus der lade, mit den exakten tiefen des St. Lorenz Stroms von Belle Isle bis Montreal.

die sonne bricht durch. der wasserspiegel reflektiert ein strahlenbündel, das blendet. der Dritte Offizier hat nachgedacht. ob ich nicht einsam bin, wenn ich so herumfahre. do you think about home? – no, do you? – no. I have no home. no friends in Montreal either. but the girl at the Seamen’s Club will help you. (ich denke eine zeitlang, warum Siemens?) Vienna is beautiful. I have seen it in movies. war movies.

(warum überhaupt denken. da denkst du ein leben lang, seemänner kennen die ganze welt, städte, menschen, und dann ist der hafen zu weit draußen.) ein grober kalter wind bläst ungezähmt um die ecken. gegen ihn anlaufen, über deck laufen. durch und durchatmen. alles ist weit. ein himmel von wasser zu wasser, dass man sich aufgehoben fühlt. wilde wirbel rauschen und klatschen, das meer rollt durch einen durch. das PRINZIP DER INNEREN GRENZENLOSIGKEIT.

dal is the lentil preparation of the day. der chefkoch ist der einzige koch. er kocht gern drei mal täglich linsen. das abendessen hat die farbe der Dritten Offiziershaut. monochromie der tage. das fruchtgelee wackelt in der schale und kommt nicht zur ruhe. im Nordatlantik um die zeit sind die wellen normal, sagt der Kapitän. die birne rollt davon. das wasser springt aus dem glas in der hand. stoßwellen. höcker, buckel: das meer. zudringliche dämmerung, schwarzer sturm.

gegen eins erreichen wir Neufundland. der Kapitän sagt: nicht viel los da. er war einmal dort, bis wo die straße aufhört, ende.

20|10

walkie-talkies. kontakt mit dem land. aufregung überall, die brückentür ist offen. ein schiff kreuzt. das erste seit tagen. ein getreidefrachter. er fragt, ob ich in Montreal bleiben will, um mit ihm weihnachten zu feiern. eine möglichkeit: warten auf den Dritten Offizier bei minus dreißig grad und wind.

in der lounge sitzt der Bayer im fauteuil und sinniert über das mittagessen. das menu liest er morgens schon wie seinen krimi. wie das sein wird, wenn er heute mittag seine spaghetti mit tomatensauce am teller hat und dann kommt der Steward und gießt ihm eine linsensauce darüber. der Steward hat ihm geklagt, er sei krank vor heimweh.

feuerübung um vier. u-boothafte rettungsboote mit vergitterten fenstern hängen in der luft. das rosige gesicht des Bayern steckt in einer schwimmweste und singt: Kalkutta liegt am Ganges, Paris liegt an der Seine, doch dass ich so verliebt bin, das liegt an Madeleine.

eine geburtstagsparty. die crew hängt in den sofas, bloße füße von olive bis schwarzbraun, wir spielen werbeanzeigen erraten. als ich mit dem porzellanklomuschelinserat auftrete, kichern sie in die polster, krümmen sich, werfen die fußsohlen in die höhe, und ich verstehe kein hindi. es ist, sagt der Chefingenieur, weil in Indien kaum jemand eine toilette aus keramik hat.